D. Knecht

Bücher müssen gelesen, kurz nachdem man sie gekauft hat, sonst verlieren sie schnell ihren Reiz und werden erfahrungsgemäss nie konsumiert. Machen sich aber trotzdem gut im Bücherregal, und die Besucher denken sich: oh, all die Bücher, die Bewohner müssen unglaublich belesen sein.

Ich habe, als Doris Knecht noch höchst unterhaltsame Kolumnen für das Tagi-Magi schrieb (um die Jahrtausendwende oder kurz danach), in denen es vorwiegend um ihre Kinder (Mimis genannt) ging, eine ihrer Kolumnensammlungen gekauft: Gut, ihr habt gewonnen. Landete dann im Bücherregal, natürlich ungelesen, denn andere Romane drängten sich auf. Nun habe ich vor kurzem die Bücher umsortiert und da fiel mir dieses Werk in die Hände, also habe ich mir gedacht: jetzt liest du das mal, um des Regelbruchs willen.

Was soll ich sagen: nichts Weltbewegendes, das will es auch gar nicht sein, aber feinste Unterhaltung.

Noch wach?

Vor 20 Jahren habe ich mich der Popliteratur zugewandt, zunächst Christian Kracht (Faserland) gelesen, grossartig, habe ich gedacht, gleich weiter zu Stuckrad-Barre: Soloalbum. Hat mich aber wenig begeistert. Also habe ich Stuckrad-Barre für viele Jahre aus den Augen verloren, links liegen lassen, bis zu Panikherz. Ich schlug den Roman auf in der Buchhandlung und werde auf der ersten Seite eines Jörg-Fauser-Zitats gewahr:

Die längsten Reisen fangen an, wenn es auf den Strassen dunkel wird.

Unterdessen grosser Jörg-Fauser-Fan, Werksaufgabe verschlungen, kann also nicht schlecht sein, wenn jemand ein Fauser-Zitat seinem Lebensbericht voranstellt. Panikherz gekauft, gelesen, sofortige und bedingungslose Versöhnung mit Stuckrad-Barre.

Jetzt also das neue Werk Noch wach? Von der Kritik kritisch aufgenommen, es soll der deutsche #MeToo Roman sein, Stuckrad-Barre dank seiner Nähe zum Chef des Axel-Springer-Verlags im Auge des Orkans. Ernstes Thema, aber Stuckrad-Barre zum Brüllen komisch wie immer, ein Wortgewaltiger, Sprachfeuerwerk Hilfsausdruck. Für mich ist Sprache häufig wichtiger als Inhalt, in dem Sinne ein gelungener Roman.

Und immer wieder wirft Stuckrad-Barre uns bedenkenswerte Zitate vor die Füsse, zwei sind mir im Gedächtnis hängen geblieben:

S. 52: Die Feinde wurden plattgemacht, und wer dabei half, war fortan Verbündeter, jedoch auch das immer nur bis auf Weiteres, man musste seine Loyalität immer wieder neu unter Beweis stellen. Loyalität war eines der Wörter, die er am häufigsten benutzte – ich dachte, speziell bei ihm, dann immer an die ewiggültigen Worte des seligen Wiglaf Droste:

“Loyal” heisst das Hundefutter bei Aldi.

S. 80: Mir fielen Worte des grossen Roger Willemsen ein, der beim Durchwandern einer deutschen Stadt einmal diese Art Fortschrittstragik voller Wehmut so beschrieb:

Voller Medienkompetenz und Know-How im Kopf – aber ohne Know-Why.

Studio Orange

Ich bin ein bekennender Fan von Literatursendungen.

Über Studio Orange der fantastischen Gastgeberin Sophie Passmann bin ich zufällig gestolpert: Passmann wurde als Kritikerin in eine andere Literatursendung (Literaturclub) eingeladen und und dabei wurde (eher beiläufig) ihr eigene Sendung erwähnt.

Gleich alle Folgen angeschaut. Ziemlich gut, insbesondere da Passmann unglaublich klug, witzig und … erfrischend agiert. Hier das Intro zu Folge 2.

Quelle

Man braucht aber auch gute Gäste. Gäste die belesen sind und klug. Am besten so belesen und klug, dass sie in der Literatursendung nicht beweisen müssen, dass sie belesen und klug sind.

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Ich hoffe, dass es weitergeht mit Studio Orange.

Nachmittage

Aus dem neuen Buch “Nachmittage” von Ferdinand von Schirach:

Es gibt Geschichten, die man nur in einer solchen Bar nachts einem Fremden erzählen kann. Draussen gehen Menschen weiter in Clubs, in Karaoke-Bars und Restaurants, sie verkleiden sich und lieben sich und hassen sich und sind sich gleichgültig, aber man selbst gehört für einen kurzen Moment nicht mehr dazu und fällt aus der Zeit. Hier oben in dieser Bar, hoch über der grössten Stadt der Welt, hört man die sanfte Stimme der Sängerin, sie singt Billy Joels And So It Goes und Chat Bakers I’m Old Fashioned, und es gibt nur das Klirren der Gläser, die leisen Anweisungen der Kellner und die gedämpften Stimmen der anderen Gäste. Später gehen alle nach Hause, die Welt beginnt erneut mit all ihren Farben und ihrem Lärm und ihrer Aufgeregtheit, und man sieht sich nie wieder. Es sind nicht die Geschichten der Sieger, nicht die lauten Sätze, die man auf Golfplätzen und in Flughafenlounges hört. Es sind leise Erzählungen von verregneten Nachmittagen und von schwarzen Nächten, und die Helden haben das Spiel endgültig verloren. Aber diese Geschichten beschützen uns vor der Einsamkeit, den Verletzungen und der Kälte. Und am Ende sind sie das Einzige, was uns wirklich gehört.

Wenn du das Haus verlässt, beginnt das Unglück

Max Küng natürlich einer meiner Lieblingskolumnisten des Tagimagi. Grossartige Artikel verfasst und seine beiden Reportagen-Sammelbände Einfälle kennen keine Tageszeit und Buch No. 2 sind allerbeste Klobücher (denn auf dem Klo lese ich gerne Reportagen).

Wie auch immer, Maxim Biller empfahl als allerletztes Buch anlässlich seines allerletzten Auftritts im Literarischen Quartett zu meiner grossen Überraschung das Küng-Buch Wenn du das Haus verlässt, beginnt das Unglück. Typischer Küng Titel.

Als ich Wochen später in der Buchhandlung stand, in meiner linken Hand den Küng und in meiner rechten Hand den neuen Lüscher, da entschied ich mich für den Küng, obwohl ich ahnte: Küng ist ein Mann für die Kurzstrecke, einen ganzen Roman könnte ihm Schwierigkeiten bereiten. Aber er hält sich nicht schlecht.

Witzig geschrieben und alles, das Problem ist bloss: seltsam langweilige Geschichte. Es wird der Alltag der Bewohner eines Wohnhauses erzählt, welche alle die Kündigung erhalten, weil das Wohnhaus renoviert werden soll (um später zu horrend gestiegenen Mietzinsen wieder auf den Immobilienmarkt geworfen zu werden). Interessantes Personal, Tragik, Liebe, Narzissmus, alles da, aber nichts ist zwingend, nichts mitreissend. Ich lese und frage mich am Ende: was soll ich damit?

Zu Beginn beschlich mich das Gefühl: er will ein bisschen schreiben wie Suter. Dieser Eindruck blieb bis zum Ende bestehen. Küng ist aber nicht Suter, weil kein verwinkelter Plot, sondern lustige Episoden aus mehreren Leben.

Ich will nicht zu negativ klingen, der Roman ist gute Unterhaltung, aber es bleibt nichts. Um wieder mal Kafka zu zitieren: ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Macht nichts Max, diesem Anspruch werden ohnehin nur wenige Romane gerecht.

Elefant

Ich lese alle Bücher von Suter. Von vielen als Trivialliteratur verschrien, bin ich ein Fan der sogenannten Suter-Sogwirkung, eine seltsame Dringlichkeit, stets die nächste Seite, das nächste Kapitel lesen zu müssen.

Leider ist von der gewohnten Suter-Sogwirkung im Elefant nichts zu spüren. Die Geschichte kommt nur schwer in Gang, und als sich endlich Anzeichen von Spannung verdichten, ist der Roman schon zu Ende.

Bemerkenswert: nachdem Suter seine Bücher jahrelang seinem Sohn Toni gewidmet hat (aus verständlichen Gründen), ist dieser Roman nun für seine Tochter Ana und Ehefrau Margrith. Er ist zu den Lebenden zurückgekehrt. Gut so.

Bücher, Bücher, Bücher

Ich lese wieder mehr als auch schon:

  • Ismail Kadare: Die Dämmerung der Steppenwölfe
    Empfehlung von Max Biller im Literarischen Quartett. Beschreibt Kadares Zeit am Maxim-Gorki Literaturinstitut im Moskau der 50er Jahre und damit das Leben in einem totalitären System. Präzise und illusionslos geschildert. Für meinen Geschmack ein wenig zu kurz, kaum kommt man in der Geschichte an, schon ist sie vorbei.
  • John Fante: 1933 war ein schlimmes Jahr
    Fand ebenfalls die Zustimmung von Biller, deshalb bestellt. Ein schmales Büchlein, das die Geschichte von Dominic Molise erzählt, aus armen Verhältnissen stammend, der auf eine Baseball-Karriere hofft. Grossartige Milieustudie, wunderbare Sprache, tragisch und humorvoll. Leider viel zu kurz. Trotzdem ein Buch, das nachhallt.
  • Richard Flanagan: Der schmale Pfad durch Hinterland
    Beschrieben wird die Hölle auf Erden: ein japanisches Kriegsgefangenenlager in Siam (heute: Thailand) während des 2. Weltkriegs, in dem australische Soldaten unter unmenschlichen Bedingungen eine Bahnlinie bauen sollen. Sie sterben wie die Fliegen. Folgende Worte bleiben in Erinnerung: Tod, Dreck, Kot, Verrecken, Blut. Damit ist alles gesagt. Darum herum gebaut eine Liebesgeschichte, die ich ein wenig seltsam fand.

Momentan lese ich Wolf Biermanns Autobiographie Warte nicht auf bessre Zeiten!. Viel mehr als eine Biographie, eher ein grosser Deutschlandroman. Einblicke in eine totalitäres Staatssystem: Biermann, der überzeugte Kommunist, dessen Vater in Auschwitz starb und den seine Mutter in jugendlichem Alter von Hamburg in die DDR schickt, um beim Aufbau des gelobten Sozialismus mitzuhelfen. Trotz des repressiven Staates hört Biermann nicht auf, an den Sozialismus jenseits der menschlichen Irrungen zu glauben, den er unter den Trümmern eines kranken Überwachungsstaates freilegen will. Und scheitert.

Maxim Biller geht

Maxim Biller verlässt mit sofortiger Wirkung das Literarische Quartett.

Schade. Sehr schade.

Ohne Zweifel war er der streitbarste, angriffslustigste, scharfzüngigste Kritiker der Runde. Immer auf Krawall gebürstet, unerbittlich, besserwisserisch, an der Grenze zur Arroganz, gerne auch mal den Doppelhänder ausgepackt, aber dank ihm grossartige Literatur entdeckt.

Sein letzte Empfehlung (zu Weihnachten!): der zweite Roman meines Lieblingsreporters des Magazins, Max Küng: Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück.

Biller wird fehlen.

Es droht Langeweile.

Hammerstein oder der Eigensinn

Ich mag die Bücher von Hans Magnus Enzensberger, ein kluger Mann, bei der Durchsicht seiner Werke über seine Arbeit Hammerstein oder der Eigensinn gestolpert, seine Annäherung an Kurt von Hammerstein, ein Generaloberst während der Weimarer Republik, der sich Hitler nie gebeugt hat (aber auch keinen aktiven Widerstand leistete). Auf dem Buchrücken wird denn auch mit einem Hammerstein-Zitat die Stossrichtung vorgegeben:

Angst ist keine Weltanschauung.

Hammerstein war ein hellsichtiger General, hat vor der Zeit erkannt, dass Hitler Deutschland in den Abgrund führen wird. Er sah den Angriff gegen Russland voraus, und er erkannte, dass die Wehrmacht im russischen Hinterland untergehen würde. Mit Hitler konnte er überhaupt nichts anfangen. Von einem Attentat auf ebendiesen hielt er trotzdem nicht viel, denn er fürchtete einen deutschen Bürgerkrieg, wenn der legitim gewählte Reichskanzler von der Armeeführung gemeuchelt würde.

Sein Fazit war so erschütternd wie unausweichlich:

Der sehr kluge Generaloberst Freiherr von Hammerstein […] vertrat die Auffassung, dass unbedingt von einem Attentat abgesehen werden werden müsste, da der Deutsche politisch derart wenig begabt sei, dass er die Notwendigkeit nie einsehen werde, wenn er nicht den bitteren Kelch bis zur Neige tränke.

Und so kam es dann auch: der Kelch wurde bis zur Neige getrunken.

Hammerstein galt als ziemlich faul, aber schlau. Dies erklärt auch seine erleuchtende Antwort auf die Frage, wie er seine Offiziere beurteilt:

Ich unterscheide vier Arten. Es gibt kluge, fleissige, dumme und faule Offiziere. Meist treffen zwei Eigenschaften zusammen. Die einen sind klug und fleissig, die müssen in den Generalstab. Die nächsten sind dumm und faul; sie machen in jeder Armee 90% aus und sind für Routineaufgaben geeignet. Wer klug ist und gleichzeitig faul, qualifiziert sich für die höchsten Führungsaufgaben, denn er bringt die geistige Klarheit und die Nervenstärke für schwere Entscheidungen mit. Hüten muss man sich vor dem, der dumm und fleissig ist; dem darf man keine Verantwortung übertragen, denn er wird immer nur Unheil anrichten.

Da versteht jemand den Brenner nicht

In der neuen deutschen Literatur gibt es zwei Grosse: Jörg Fauser und Wolf Haas. Fakt.

Es folgt eine schöne Rezension eines Brenner-Romans auf amazon.de, vernichtendes Urteil: 1 Stern, frage nicht:

Die positiven Rezensionen kann ich trotz ernsthaften Bemühens, mich beim Lesen gut zu unterhalten, nicht nachvollziehen. Die vom Autor an den Tag gelegte exzessive Verwendung von Hilfverben, wie “tun”, die möglicherweise der Erzeugung eines “Lokalkolorits” dienen soll (nur, wer redet so? Niemand), löste bei mir den Wusnch aus, das Buch teilgelesen in hohem Bogen ins Altpapier zu werfen. Die Stories mögen ja ganz spannend sein, aber der Sprachstil nervt einfach nur. Ich kann den Hype um den Autor nicht teilen.

So habe ich Wolf Haas nie gelesen. Ganz im Gegenteil, ich fand die Stories immer mässig spannend, aber die Sprache überwältigend. Grosses Kino Hilfsausdruck. Mit nichts anderem zu vergleichen (falls jemand Ähnliches kennt, bitte melden).

Wolf, um Himmels Willen, schreib wieder mal einen Brenner-Roman!