Roman eines Schicksallosen

Jetzt mal wieder zu einem ernsten Thema. Nach Die Wohlgesinnten habe ich Roman eines Schicksallosen des ungarischen Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész gelesen. Das Buch beschreibt den Alltag im Arbeitslager Buchenwald aus der Perspektive eines jungen Häftlings, quasi das Gegenstück zu Littells SS-Offizier-Sicht. Ich-Erzähler, stark autobiografisch, denn wie der Vortragende war auch Kertész in Buchenwald interniert.
Der Roman ist ein einziger Faustschlag. Kertész hat eine Sprache gefunden, mit der er die Greuel des Lagers ohne Empörung, ohne Entrüstung, ohne Wut beschreibt. Es ist diese unglaublich minimalistische, sachliche, kindliche, emotionslose Ausdrucksweise, die ungeheuerlichen Aussparungen, die dem Leser unter die Haut gehen. Beispiel gefällig?

Erst da begriff ich, dass die Zeit offenbar hin und wieder unsere Wahrnehmung täuschen kann. So hatte dieser – in seinem Ergebnis zwar durchaus fassbare – Prozess auch meiner Aufmerksamkeit entgehen können, als er sich zum Beispiel an einer ganzen Familie vollzog, nämlich an der Familie Kollmann. Ein jeder im Lager kannte sie. Sie kamen aus einem gewissen Ort namens Kisvarda, aus dem auch noch viele andere hier waren, und aus der Art, wie man mit ihnen oder von ihnen sprach, schloss ich, dass sie zu Hause angesehene Leute gewesen sein mussten. Sie waren zu dritt: der kleinwüchsige, kahle Vater, ein grösserer und ein kleinerer Junge, die dem Vater überhaupt nicht, einander aber – und demzufolge wahrscheinlich der Mutter, denke ich – im Gesicht auffällig ähnlich waren, die gleichen blonden Borsten, die gleichen blauen Augen. Sie gingen immer zu dritt, und wenn nur irgend möglich Hand in Hand. Nun habe ich nach einer gewissen Zeit bemerkt, dass der Vater hin und wieder zurückblieb und die beiden Jungen ihm helfen und ihn an der Hand mitziehen mussten. Nach einer Weile war dann der Vater gar nicht mehr bei ihnen. Dann aber musste der grössere bald den kleineren nachziehen. Noch später ist dann auch dieser verschwunden, und da schleppte der grössere bloss noch sich selbst, und in der letzen Zeit sah ich auch ihn nirgends mehr. (S.170)

Schon mal die Grausamkeit eines Konzentrationslagers in solchen Worten wiedergefunden?
Wenn du das Buch liest und die Entrüstung, die Ohnmacht, der Zorn in dir aufsteigt, wenn du des Wahnsinns gewahr wirst, dann hält dir Kertész diese Sanftmut, diese Ruhe, diese Gelassenheit, diese Güte entgegen, und du denkst: wo bleibt denn hier der Aufschrei, der Groll, die Raserei?
Noch so eine Stelle, als er einen Sack Zement fallen lässt und sich der Aufseher auf ihn stürzt:

Dann zerrte er mich wieder hoch: “Dir werd ich’s zeigen, Arschloch, Scheisskerl, verfluchter Judenhund”, so dass ich nie wieder einen Sack fallen liesse, wie er versprach. Von da an lud er mir bei jeder Wende persönlich den Sack auf den Nacken, nur um mich kümmerte er sich, nur ich gab ihm zu tun, nur mich verfolgte er mit den Blicken bis zum Wagen und zurück, und mich holte er nach vorn, auch wenn der Reihe und der Gerechtigkeit nach andere drangewesen wären. Zu guter Letzt spielten wir einander beinahe schon in die Hände, kannten uns schon, beinahe las ich schon so etwas wie Befriedigung, Zuspruch um nicht zu sagen Stolz auf seinem Gesicht, womit er, das musste ich zugeben, unter einem bestimmten Blickwinkel gesehen sogar recht hatte: wenn auch schwankend, gekrümmt, zuweilen mit Schwärze vor den Augen, so hielt ich doch durch, ich kam und ging, ich trug und schleppte, und zwar ohne einen einzigen weiteren Sack fallen zu lassen, und das war ja – das musste ich einsehen – alles in allem die Bestätigung für ihn.
Andererseits fühlte ich am Ende dieses Tages, dass etwas in mir unwiederbringlich kaputtgegangen war, von da an dachte ich jeden Morgen, es sei der letzte, an dem ich noch aufstehen würde, bei jedem Schritt, dass ich den nächsten nicht mehr tun, bei jeder Bewegung, dass ich die nächste nicht mehr schaffen würde; aber ja nun, vorläufig schaffte ich sie noch jedesmal.

Wo hat er bloss die Kraft hergenommen?

2 responses to “Roman eines Schicksallosen”

  1. Interessant, genau dieselbe Feststellung habe ich beim Buch “Thomas Buergenthal – Ein Glückskind” gemacht. Und mich ebenfalls gefragt, woher der Autor seine Sachlichkeit hernimmt, ohne grosse persönliche Emotionen einfliessen zu lassen.

    http://pascalhohl.wordpress.com/2009/08/04/thomas-buergenthal-ein-gluckskind/

    Ich kenne dein hier beschriebenes Werk nicht, werde es mir aber notieren. Danke!

  2. Dann werde ich mir im Gegenzug Ein Glückskind notieren.
    Auf Kertész bin ich durch ein beeindruckendes Interview im Magazin gestossen:

    http://dasmagazin.ch/index.php/der-letzte-zeuge/

    Seine Antwort auf die Frage, was er von Filmen hält, welche die Vernichtungslager zum Thema haben, ist mir lange nicht aus dem Kopf gegangen:

    Es gab einen polnischen Film, den ich kurz nach dem Krieg gesehen habe und danach nie wieder. Er zeigt das Schicksal der Frauen in Birkenau: ein grauer Morgen, die Sonne geht auf, die Frauen stehen sich gegenüber und beginnen mit ihren Oberkörpern zu schaukeln, hin und her und hin und her, um nicht vor Müdigkeit zusammenzubrechen. Diese Szene ist absolut glaubwürdig. Das kann nur einer gefilmt haben, der dort war.

    Dieses Bild der schaukelnden Frauen hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Hin und her und hin und her.