Gurten 2010

Am Anfang stand ein Missgeschick, das mich die Teilnahme am Konzert der Punk-Band Bad Religion kostete, die nichts geringeres als die Helden meiner Jugend sind. Aber es hätte weitaus schlimmer kommen können. Für einen Augenblick war meine Anwesenheit auf dem Gurten gefährdet. Aber der Reihe nach.
Als ich die KEYMILE Headquarters in Bern-Liebefeld verliess, habe ich das Gurten-Ticket für den Donnerstag in meiner Hosentasche verstaut. Auf dem Weg zur Haltestelle nahte ein Bus, also bin ich mit Luca losgerannt, um ebendiesen zu erwischen. Was uns auch gelang. Beim Hirschengraben setzte ich mich in ein 9er Tram Richtung Wabern. Einige Stationen später stellte ich fest, dass das Ticket verschwunden war. Entweder verloren oder gestohlen, wobei ich angesichts des Sprints zum Bus eher auf ersteres tippte. Bisschen hin und her überlegt, dann zurück zum Hirschengraben und wieder rein in den Bus, andere Richtung, zurück nach Liebefeld. Im Bus klingelte mein Handy. Eine KEYMILE Nummer. Jetzt pass auf: Role der Buchhalter hat das Ticket bei der Busstation gefunden, spazierte zurück zum Arbeitsplatz, tippte die Adresse auf dem Ticket im Internet ein, fand eine Telefonnummer, rief dort an, bekam meine Handynummer und rief mich an. Voila. Ihr seht: Role ist ein feiner Kerl und denkt auch noch mit (was man in dieser Kombination eher selten antrifft).
Das Konzert von Dr. Greg Graffin habe ich nicht mehr miterlebt, die gewaltige Menschenwalze vor dem Gurtenbähnli hat meine letzten Hoffnungen zerschlagen, aber ich will nicht klagen, schliesslich habe ich es allein Role zu verdanken, dass ich überhaupt noch was zu sehen bekam.
Oben auf dem Berg angekommen tat ich, was ich beim Gurten-Festival immer zuerst tue: Eine kühle Ovomaltine bei Swissmilk neben der Hauptbühne holen. Es gibt nichts besseres, lasst euch nicht von diesem Alkohol-Gerede irritieren. Dann ein wenig rumgeschlendert, prinzipiell alles beim alten, hie und da ein neues Zelt, das wars. Wetter bestens, Stimmung friedlich und da zeigten sich direkt die Vorteile des ersten Festivaltages: (1) Leute noch nicht sturzbetrunken, (2) auch wenn es regnen würde, wäre der Boden noch nicht hin und (3) Donnerstag immer die guten englischen Bands am Start, sprich Babyshambles.
Dann das erste Konzert: Blood Red Shoes, eine 2-köpfige Band aus Brighton auf der Zeltbühne: er an den Drums, sie an der Gitarre, beide singen. Geradlinige Songs, wie früher Kurt Cobain, hat was, vermag zu gefallen. Danach geht es weiter auf auf der Hauptbühne, zuvor aber kurzer Abstecher zum Migros Take-away, Pommes Frites mitnehmen. Auf der Hauptbühne eine Band, von der ich noch nie gehört habe: Empire of the Sun. Da muss ich jetzt sagen: nicht so schlimm, dass mir die noch nie über den Weg gelaufen sind, verpasst habe ich nicht viel. Im Programm-Heftli steht: geschmeidiger Synthie-Pop. Der Sänger trug ein bemerkenswertes Kostüm, ansonsten kann ich mich nicht mehr an allzu viel erinnern. Zum Glück stand plötzlich Fridu (= Arbeitskollege) neben mir. Wir schlossen uns kurzerhand zu einer Festivalgemeinschaft zusammen. Fridu ist Gurten-Veteran und war mit einem 4-Tages-Pass unterwegs, frage nicht.
Nach Empire of the Sun wieder zur Zeltbühne, Jet warten. Von dieser Band habe ich eine Platte zu Hause und auf dieser Platte gibt es ein berühmtes Lied. Alle Zuschauer unter dem Zelt warteten nun auf genau diesen einen Song. Das muss auch den Bandmitgliedern klar gewesen sein und irgendwann in der Mitte liessen sie die Katze aus dem Sack, sprich: Are you gonna be my girl? Jet haben sich redlich bemüht und ein anständiges Konzert abgeliefert mit Zugabe und alles. Gegen 23:15 hat man aber langsam gemerkt, die Leute werden unruhig, die Reihen lichteten sich, die Menschen strömten wieder zur Hauptbühne, um den Verrückten zu sehen: die Babyshambles lassen es krachen. Vorneweg natürlich der unverwüstliche Pete Doherty und ich muss sagen: selten hat jemand seinen Niedergang vor den Augen der Welt so gekonnt inszeniert wie dieser unscheinbare Junge aus England, Bezirk Northumberland, Gemeinde Hexham. Schnell wurde klar: Pete ist anders als die anderen. Ganz anders. Er stolperte und torkelte über die Bühne, klimperte ein wenig auf seiner Gitarre, seine Kollegen versuchten seine musikalischen Ausbrüche zu begleiten. Es gelang ihnen nicht immer. Zu Beginn des Konzerts standen sie alle zusammen, strichen über ihre Saiten, spielten die Instrumente ein wenig ein, rauchten und tranken. Dann gings irgendwann los. Alles ziemlich konzeptfrei, aber Pete hangelte sich von Song zu Song. Manchmal genehmigte er sich einen Schluck aus einer seltsamen Glaskaraffe, in die er von Zeit zu Zeit eine Flüssigkeit nachfüllte. Es war faszinierend und traurig zugleich, diesen Burschen auf der Bühne stehen zu sehen. Faszinierend deshalb, weil Doherty wirklich Talent hat, mehr als die meisten anderen. Traurig deshalb, weil er dieses Talent verschwendet, aus dem Fenster wirft, und weil sein Ende absehbar ist, wenn er in diesem Stil weiterlebt. Er schien sich vor unseren Augen aufzulösen. Die Babyshambles beschlossen ihr denkwürdiges Konzert mit dem Song Fuck Forever, nicht ohne vorher dem Publikum mitzuteilen: “Well, you’ve been a terrible audience, I have to say that.”
Fridu zog danach noch weiter zu Choc Quib Town, einer kolumbianischen Band. Es soll ein ausgezeichnetes Konzert gewesen sein. Ich hingegen war müde und machte mich auf den Heimweg.
Wenn man nachts auf dem Gurten steht, dann ist Bern ein einziges Lichtermeer. Ich stieg in die Gurtenbahn, die mich hinab trug, in dieses sanfte Licht.