Unter Null

In Panikherz bringt uns Stuckrad-Barre seine literarischen Helden näher: Fauser, Bukowski, Ellis. Ich natürlich elektrisiert, denn Fauser bekanntlich grosses Kino und es gibt nicht manchen, der das erkannt hat. Deshalb sogleich literarische Verbrüderung mit Stuckrad-Barre akzeptiert.

Er beschreibt den Moment, als er Unter Null von Bret Easton Ellis las:

Ich setzte mich hin und hörte nicht auf zu lesen, und mir widerfuhr, was in Comics passiert, wenn jemand in eine Steckdose fasst. “Auf den freeways in Los Angeles werden die Leute auch immer rücksichtsloser”, so begann “Unter Null”, und für mich begann genau da die Gegenwart. Im Lesen, im Denken – und in meinem Leben. Jetzt hatte ich mich zugeschaltet.

Interessant, und da mir Ellis weitgehend unbekannt ist und ich unsere literarische Verbrüderung untermauern wollte, habe ich Laure sogleich zum Stauffacher dirigiert, Unter Null kaufen.

Gelesen über Weihnachten. Leider nichts für mich. Respekt für die Leistung (Ellis schrieb das Buch als 20-jähriger), verstehe auch durchaus, dass es sich zu einem Kultbuch entwickelt hat, mich aber hat es nicht erreicht.

Der Roman erzählt die Geschichte von Clay, einem rich kid, der seine College-Ferien mit anderen rich kids verbringt, sprich: Parties, Drogen (vor allem Kokain), ein bisschen Sex und einige weitere ziemlich üble Abgründe. Die Erzählung lässt sich mit folgendem Auszug zusammenfassen:

Ausserdem wird mir klar, dass ich tatsächlich mit Julian ins Saint Marquis gehen werde. Dass ich rausfinden will, ob so etwas wirklich passieren kann. Und wir fahren weiter abwärts, vorbei am ersten Stock, vorbei am Erdgeschoss, noch tiefer, un da wird mir klar, dass es nicht um das Geld geht. Dass es in Wirklichkeit nur um eines geht. Ich will auch noch das Schlimmste erleben.

Und das erleben wir dann auch. Und es wird noch ein bisschen schlimmer.

Hat mich alles nicht so richtig interessiert, aber es gab durchaus Glanzlichter, wie diesen Dialog, der das Lebensgefühl der rich kids einfängt (Clay ist der Ich-Erzähler, sein Ex-Freundin stellt die Fragen):

“Was interessiert dich denn überhaupt? Was macht dir Freude?”
“Nichts. Nichts macht mir Freude. Ich mag gar nichts”, erkläre ich ihr.

Man sagt, es sei das beste Buch von Bret Easton Ellis. Die Jungen sollen es lesen, für die Alten ist es wahrscheinlich zu spät.

Daumen hoch: Panikherz

Stuckrad-Barres Autobiographie gelesen, und ich kann ihr einen hohen Unterhaltungswert attestieren.

Das ganze läuft zweigleisig: ein Erzählstrang behandelt seine Drogenjahre in Hamburg, Berlin, Zürich sowie diversen Entzugskliniken; die zweite Ebene ist in der Jetztzeit angesiedelt und beschreibt einen mehrwöchiger Aufenthalt im Hotel Chateau Marmont am Sunset Boulevard, wo er den vorliegenden Roman schreibt. Nebenbei hängt er noch ein bisschen mit Bret Easton Ellis rum, geht essen mit Thomas Gottschalk, besucht ein Konzert von Noel Gallagher sowie eine Leseveranstaltung von Elvis Costello (einem seiner Helden).

Aber natürlich die Schlingerjahre viel interessanter. Stuckrad-Barre torkelt von einem Rausch in den nächsten oder besser: alles Handeln ist darauf ausgerichtet, den Rausch erst gar nicht abklingen zu lassen. Und das alles in dieser witzigen Sprache, eine seltsame ironisch-skeptische Distanz zu sich selber, Gedankensprünge, irres Zeug, meisterhaft verknüpft. Typische Stelle, bei der ich laut lachen musste:

Ich nehme mir ein Aldi-Wasser aus dem Kühlschrank, damit die Schlaftabletten sicher ans Ziel kommen, das Ziel ist mein Hirn – und es wäre schön, wenn da oben dann bald mal Ruhe wäre. Einer der Aldi-Brüder, Karl, glaube ich, hielt an seinem 90. Geburtstag folgende Festrede:

Ich wollte gar nicht, dass ihr alle kommt.
Ich habe Hunger.
Ich gehe bald wieder nach Hause.

Das ist eigentlich mein Text, Abend für Abend.

Bisschen viel Udo Lindenberg (sein grösster Held) gegen Ende, aber insgesamt sehr lesenswert. Also raus in den Buchladen. Kaufen. Lesen. Und gleich noch ein Buch von Jörg Fauser mitnehmen (Rohstoff!).

Panikherz

Vor einigen Wochen die Werkausgabe von Jörg Fauser nach Hause schicken lassen. Fauser hat es mir angetan, ich habe es bereits mehrfach ausgeführt, und wenn du nur ein einziges seiner Bücher lesen willst, dann sollte es Rohstoff sein.

Heute wieder mal in einer deutschsprachigen Buchhandlung unterwegs, Benjamin von Stuckrad-Barres autobiografischer Roman Panikherz fällt mir in die Hände. Ich glaube mich zu erinnern, dass Stuckrad-Barre besagten Jörg Fauser als eines seiner role models bezeichnete, schon mal ganz vernünftig und völlig auf meiner Linie, zudem: Soloalbum war nicht schlecht, zumindest damals, als ich es las, vor einem halben leben. Also Panikherz gekauft, im Zug das Buch aufgeschlagen, kein Widmung, dafür ein Jörg Fauser Zitat:

Die längsten Reisen fangen an, wenn es auf den Strassen dunkel wird.

Freudige Erwartung.

Depeche Mode

Ein Roman des ukrainischen Autors Serhij Zhadan (eine weitere Magazin-Entdeckung). Kurzweilige Unterhaltung, unverfälschte rohe ukrainische Realität, erschreckend und berührend zugleich. Handlung: drei Freunde suchen einen Kumpel, um ihn darüber zu unterrichten, dass sein Stiefvater sich erschossen hat. Sie streifen und stolpern durch die sowjetische Zeitenwende, Umbruch, Anarchie, Randale, schräge Gestalten an jeder Ecke, aber für einen Westler natürlich faszinierend, sich dieses Chaos zu erlesen.

Arno Camenisch

Vor einigen Jahren las ich einen Artikel, wahrscheinlich im Magazin, über den Bündner Jungautor Arno Camenisch und ich dachte mir: du musst ein Buch kaufen von ihm und es lesen. Da nun aber schon viele Bücher auf meinem Schreibtisch liegen, die gelesen werden wollen, habe ich es vergessen, bis ich eine Buchhandlung in Zürich besuchte, durch die Bücherregale streifte und zufälligerweise auf eine kleine Kolumnen-Sammlung von Camensich stiess, die ich kaufte und im Zug las. Einfache, humorvolle, präzise Sprache, gefällt mir, also ab ins Internet und direkt den ersten Band seiner Bündner-Trilogie bestellt: Ser Nez. Gelesen. Fremde Welt, aber hat einen andächtigen rauen Charme. Das gefällt mir. Zudem ein interessantes Layout, linke Seite jeweils auf Räteromanisch, rechte Seite auf Deutsch.
Dann über einen Bericht der SF Kulturabteilung gestolpert, sie haben Camenisch besucht in den Bergen. Er erzählt und zerlegt dabei Holz mit der Axt. Dann sagt er:

Schreiben ist wie Holzhacken. Du musst zuerst mal genau hinschauen und verstehen, welche Art von Holz du vor dir hast, wie die Fasern verlaufen. Kannst nicht einfach nur draufhauen.

Schöne Analogie. Er spricht auf Schweizerdeutsch und sagt natürlich nicht draufhauen, sondern drybrätsche. Grosses Sprachkino.

Frühling der Barbaren

Auf Empfehlung von Mike habe ich die Novelle Frühling der Barbaren von Jonas Lüscher gelesen.

Inhalt (Buchumschlag):

Der Schweizer Fabrikerbe Preising wird in einem tunesischen Oasenresort zur Hochzeit reicher, junger Engländer aus der Londoner Finanzwelt eingeladen. Während die Festgesellschaft sich in ihren Betten noch von den Strapazen des ausschweifenden Festes erholt, verkündet England den Staatsbankrott. Und mit gesperrten Kreditkarten, in der Wüste gestrandet, plötzlich überschuldet und arbeitslos geworden, scheint es nur ein kurzer Schritt zurück in die Barbarei.

Ich habe bereits mehrfach betont, dass mir die Sprache eines Buches oft wichtiger ist als die Handlung. Lüscher wurde für seinen abgehobenen Stil und seine teilweise altertümlichen Formulierungen kritisiert, aber ich mag sein Sprache.

Das Buch ist leicht, schnell, witzig und die Handlung ist bisweilen absurd. Das gefällt mir. Wir feiern die Absurdität viel zu selten, obwohl sie uns jeden Tag umgibt. Und natürlich immer vorne dabei, wer sich über die Banker lustig macht.

Ulysses: Schwerstarbeit

Vor Kurzem habe ich beiläufig erwähnt, dass ich drei mal vergeblich versucht habe, Ulysses zu lesen (ähnliches widerfuhr mir mit dem Zauberberg, aber da habe ich mich verbissen durchgekämpft). Jedenfalls lese ich nun in einem alten NZZ am Sonntag Heftli, Weltliteratur – Klassiker kompakt, Ausgabe Nr. 10 – Ulysses:

Auch heute noch gilt: Das Buch ist ein intellektuelles Vergnügen für literarisch gebildete Leser – aber Schwerstarbeit für alle anderen.

Ich weiss genau, was er meint, trotzdem ein Schlag ins Gesicht.

Der letzte Versuch liegt ungefähr 10 Jahre zurück, aber ich befürchte, dass ich immer noch nicht so weit bin.

Es bleibt ein Lebensziel.

Die wichtigsten Bücher seit meiner Jugend

Die wichtigsten Bücher meiner Jugend habe ich vor kurzem vorgestellt. Hier nun einige Romane, die später hinzukamen:

  • 2666 – Roberto Bolano
    Sein Meisterwerk. Danach so ziemlich alles von ihm gelesen. Südamerikanisches Genie.
  • Brüder – Hua Yu
    Anhand der Lebensgeschichten zweier ungleicher Brüder wird der Leser durch die jüngere chinesische Vergangenheit geführt.
  • Rohstoff – Jörg Fauser
    Absoluter Geheimtipp. Tragisch und unglaublich witzig zugleich. Auch Das Schlangenmaul ist glänzend, aber Rohstoff ist besser.
  • Die Wohlgesinnten – Jonathan Littell
    Alle Gräuel des zweiten Weltkrieges aus der Perspektive eines SS Offiziers. Monumental, aber schwere Kost.
  • Roman eines Schicksallosen – Imre Kertész
    Wieder der zweite Weltkrieg, aber diesmal die Erinnerungen aus dem Konzentrationslager Buchenwald, mit kindlicher Naivität erzählt. Welcher Grösse es bedarf, seine Geschichte in dieser Form niederschreiben zu können. Chapeau.

Ulysses von James Joyce soll nicht unerwähnt bleiben. Drei mal begonnen zu lesen, drei mal gescheitert. Aber ich werde es wieder versuchen.

Unendlicher Spass von David Foster Wallace steht seit Jahren mahnend im Bücherregal.

Und auch mal einen Proust zu Ende lesen. Das wäre schön.

Es bleibt noch viel zu tun.

Die wichtigsten Bücher meiner Jugend

Über Weihnachten weile ich bei meinen Eltern. In einem Zimmer steht ein Bücherregal, in dem die wichtigsten Romane meiner Jugend versammelt sind (keines davon war Schullektüre). Die Reihenfolge ist nicht als Rangliste zu verstehen, aber Hundert Jahre Einsamkeit vereint alles, was ich in einem Roman vorfinden will: Leben, Tod, Liebe und vor allem eine bezaubernde, tiefe, mitreissende Sprache.

  • Hundert Jahre Einsamkeit – Gabriel Garcia Marquez
    Beginnend mit diesem Buch habe ich alles von Marquez gelesen. Magischer Realismus. Wahrscheinlich bis zum heutigen Tag das beste Buch, das ich jemals gelesen habe.
  • Der Fänger im Roggen – J. D. Salinger
    Muss jeder Heranwachsende gelesen haben
  • Schuld und Sühne – Fjodor Dostojewski
    Hat die Dostojewski-Phase eingeleitet. Dostojewski war einer der grössten der Geschichte, kein Zweifel. Die Brüder Karamasow sind noch aussehend.
  • Der alte Mann und das Meer – Ernest Hemingway
    Hemingway ist der König des minimalistischen Schreibstils, und trotzdem von einer unglaublichen Klarheit.
  • Reise ans Ende der Nacht – Louis-Ferdinand Céline
    Die Wirren des ersten Weltkrieges. Céline muss ein schrecklicher Mensch gewesen sein, aber das Buch ist grossartig.
  • Die Asche meiner Mutter – Frank McCourt
    Schreckliche Kindheit, unfassbar humorvoll beschrieben. Selten so viel gelacht, obwohl das Erzählte tragisch ist.
  • Das Salz der Erde – Jozef Wittlin
    Ein weiteres Buch des ersten Weltkrieges. Der Handlung kann ich mich nicht mehr entsinnen, aber die Sprache war mächtig. Muss ich wieder mal lesen.
  • Faserland – Christian Kracht
    Der erste Popliteratur-Roman, den ich jemals gelesen habe. Folgender Satz auf den ersten Seiten hat mich nie ganz losgelassen: Der Hund kackt komischerweise halb im Stehen, und ich kann genau erkennen, wie ein Viertel der Wurst an seinem Hintern klebenbleibt.
  • Die Entdeckung des Himmels – Harry Mulisch
    Haben viele meiner Schulkollegen gelesen. Lag damals im Trend. Der Autor beeindruckte mit unerschöpflichem Wissen zu ziemlich allen Themen. Und dann war da noch was mit einer Dreiecksbeziehung, hochinteressant für einen staunenden Jugendlichen.

Es gab noch andere Bücher, natürlich, denn es kann nie genug Bücher geben, aber diese haben bleibende Eindrücke hinterlassen.

Gelesen: Arbeit und Struktur

Bereits darüber geschrieben, einige Monate lag es auf meinem Bücherstapel, jetzt habe ich es gelesen. Als Wolfgang Herrndorf von seinem Glioblastom (Hirntumor) erfuhr, stürzte er sich in die Arbeit und vollendete zwei Romane (Tschick, Sand), an denen er zuvor jahrelang gewerkelt hatte, ohne zu einem Ende zu gelangen, weil er teilweise monatelang nach der richtigen Formulierung einzelner Sätze suchte. Jetzt musste er schneller schreiben, schneller entscheiden. Wenn die Endlichkeit an die Tür klopft, sind Menschen zu grossen Taten fähig.

Die letzten drei Jahre seines Lebens und damit die Entstehung von Tschick und Sand, hat er in einem Blog beschrieben, der nun als Buch veröffentlicht wurde: Arbeit und Struktur.

Im Nachwort, das Herrndorf nicht mehr selber schreiben konnte, wird auf Wunsch des Autors genau erläutert, wie er sich umgebracht hat, denn

Das hat mich so viele Wochen so ungeheuer beunruhigt, keine exakten Informationen zu haben.

Ende des Nachworts:

Herrndorfs Persönlichkeit hatte sich durch die Krankheit nicht verändert, aber seine Koordination und räumliche Orientierung waren gegen Ende beeinträchtigt. Es dürfte einer der letzten Tage gewesen sein, an denen er noch zu der Tat imstande war.

Herrndorf hat sich wiederholt über die Esoteriker, Heilpraktiker und Ärzte lustig gemacht, die mit teilweise absurden Behandlungsmethoden oder Diäten an ihn herangetreten sind. Er hatte einen anderen Plan.

Ich schlafe mit der Waffe in der Faust, ein sicherer Halt, als habe jemand einen Griff an die Realität geschraubt.