Adonis

Interview mit dem syrischen Dichter Adonis im kleinen Bund. Er kritisiert die arabische Welt und den Westen massiv und hat dafür mehrere Todesdrohungen kassiert. Ist ihm aber egal, denn er sagt: für gewisse Überzeugungen sollte man das Leben riskieren. Hier einige Auszüge aus dem Interview. Einerseits viel Hoffnungslosigkeit, andererseits (das werden die arabischen Fundamentalisten jetzt nicht gerne hören) könnte eine strikte Trennung von Religion und Staat (ähnlich wie in anderen Regionen der Welt) die Situation merklich verbessern. Die Frage lautet: kann es gelingen?

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Sie sagen, die arabische Gesellschaft sei krank. Woran krankt sie?
Sie baut auf einem totalitären System auf. Die Religion diktiert alles: wie man geht, wie man die Toilette besucht, wie man sich zu lieben hat . . .

Ein moderner Islam ist nicht denkbar?
Man kann eine Religion nicht reformieren. Wenn man sie reformiert, trennt man sich von ihr. Deswegen ist ein moderner Islam nicht möglich, moderne Muslime schon. Wenn es keine Trennung zwischen Religion und Staat gibt, wird es keine Demokratie geben, keine Gleichstellung der Frau. Dann behalten wir ein theokratisches System. So wird es enden. Gemeinsam mit dem Westen werden im Mittleren Osten Theokratien aufgebaut.

[…]

Sie gehen mit der arabischen Welt hart ins Gericht.
Ich kritisiere die arabische Kultur und die arabischen Politiker seit 1975, und ich kann nur sagen: Die Araber sind am Ende. Sie sind keine kreative Kraft mehr. Der Islam trägt nicht zum intellektuellen Leben bei, er regt keine Diskussion an. Er gibt keine Anstösse mehr. Er bringt kein Denken, keine Kunst, keine Wissenschaft, keine Vision hervor, die die Welt verändern könnten. Die Araber als Quantität werden weiter existieren, aber sie werden die Welt nicht qualitativ besser oder menschlicher machen.

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Aber auch der Westen bekommt sein Fett ab, schliesslich tut er nichts, um demokratische Strukturen in der arabischen Welt zu verankern. Ganz im Gegenteil, der Westen liefert weiter munter Waffen an Staaten wie Saudi Arabien, und festigt damit die bestehenden Machtstrukturen. Wieder mal Brecht: erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.

Leider haben auch Bewegungen innerhalb der arabischen Welt (Stichwort: Arabischer Frühling) keine Verbesserungen gebracht (eher im Gegenteil): die Situation ist noch unübersichtlicher und dramatischer geworden. Adoris Begründung das Scheitern so: der Arabische Frühling hat nur die herrschenden Regime ersetzt, aber nicht die Gesellschaft transformiert.

Ziemlich düster alles. Nochmals Adonis:

Von welcher Freiheit reden wir? Die Befreiung der Frau und ihre Gleichbehandlung etwa? Die Frau von der Scharia zu befreien, den Menschen ihre Menschenrechte zu geben, darum geht es. Die Gesellschaft zu ändern, hätte verlangt, die kulturellen und religiösen Fundamente zu verändern. Die Revolution hätte tiefer gehen, weiser sein müssen, visionärer als das Regime. Aber das ist vorbei. Die arabische Welt ist dabei, zerstört zu werden: erst der Irak, Libyen, jetzt Syrien – und nun ist der arme Jemen dran. All das hat die religiöse Mentalität nicht geschwächt, nur verstärkt.